Die Londoner Börse erlebt den größten Exodus an Unternehmen seit der Finanzkrise 2009, mit 88 Abgängen gegenüber nur 18 Neuzugängen. Experten wie Xavier Rolet, ehemaliger LSEG-Chef, warnen vor der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit Londons im Vergleich zu Märkten wie den USA, wo Unternehmen höhere Bewertungen und günstigere Bedingungen vorfinden. Als Gründe werden unter anderem die schwache britische Wirtschaft, der Brexit, strengere Regulierungen und die Ablenkung durch die Fusion mit Refinitiv genannt.
Die Londoner Börse verzeichnet den größten Unternehmensabgang seit 2009. Cryptopolitan zufolge haben in diesem Jahr 88 Unternehmen die Börse verlassen oder ihre Hauptnotierung von London wegverlagert, demgegenüber stehen lediglich 18 Neuzugänge. Diese Zahlen, ursprünglich von der Financial Times veröffentlicht, unterstreichen den erheblichen Nettoabfluss und stehen im krassen Gegensatz zur Zeit vor der Finanzkrise.
Xavier Rolet, ehemaliger Leiter der London Stock Exchange Group (LSEG), äußerte sich besorgt über diese Entwicklung und bezeichnete die Londoner Börse als "zutiefst unkonkurrenzfähig". City AM berichtet, dass Rolet vor der "realen Gefahr" warnte, dass weitere britische Firmen aufgrund mangelnder Handelsaktivitäten in London ihre Notierungen zugunsten besserer Renditen im Ausland aufgeben könnten. Als Beispiel nannte er Ashtead, ein FTSE-100-Unternehmen, das seine Hauptnotierung in die USA verlegen möchte. Rolet argumentiert, das im Vergleich zu den USA geringere Handelsvolumen in London zwinge Unternehmen, ihre Aktien in Großbritannien unter Wert anzubieten, um Investoren anzulocken. Dies führe laut Berechnungen von Goldman Sachs zu einem durchschnittlichen Abschlag von 52 Prozent im Vergleich zu US-Pendants.
Die britische Regierung hat bereits Maßnahmen ergriffen, um die Attraktivität der Londoner Börse zu verbessern, darunter die Vereinfachung von Regulierungen und eine Reform des Rentensystems zur Förderung von Investitionen. Rolet fordert jedoch weitere Schritte, wie die Abschaffung von EU-Vorschriften, die Pensionsfonds vom Aktienbesitz abhalten, sowie die Senkung der Steuern auf Aktienhandel und Dividenden. Er sieht die eigentliche Gefahr nicht mehr im Mangel an Tech-IPOs, sondern in der Abwanderung etablierter europäischer Unternehmen in die USA, wo sie laut City AM von niedrigeren Kapital- und Energiekosten, höheren Bewertungen und günstigeren Zöllen profitieren könnten.
Die University of Warwick analysiert die Ursachen für die Probleme der Londoner Börse. Als Gründe werden unter anderem die Präferenzen der Investoren genannt, die aufgrund der schwächelnden britischen Wirtschaft und Faktoren wie dem Brexit und geringer Produktivität in besser performende Märkte wie die USA investieren. Auch der verstärkte Aufkauf von Unternehmen durch Private-Equity-Firmen in den letzten Jahren trage zum Rückgang börsennotierter Unternehmen bei. Der Zusammenschluss der LSE mit dem US-Datengiganten Refinitiv im Jahr 2021 wird ebenfalls als möglicher Faktor diskutiert, da die Aufmerksamkeit des Managements dadurch möglicherweise von der Börse abgelenkt wurde. Weitere Gründe für die Abwanderung von Unternehmen seien die strengeren Regulierungsvorschriften in Großbritannien im Vergleich zu den USA, insbesondere in Bezug auf unterschiedliche Stimmrechte für Aktien, sowie die deutlich höheren CEO-Gehälter in den USA.
Proactive Investors vergleicht die Situation in London mit der in den USA und stellt fest, dass auch dort die Zahl der börsennotierten Unternehmen seit 1996 stark gesunken ist. Dies deute darauf hin, dass die Herausforderungen nicht nur Großbritannien betreffen. Auch in den USA sei die Zahl der Börsengänge stark rückläufig, und die Performance der wenigen neuen Börsengänge sei enttäuschend. Proactive Investors warnt vor einer Deregulierung der Börsen, um Unternehmen den Börsengang zu erleichtern, da dies zulasten des Anlegerschutzes gehen könnte. Stattdessen werden die niedrigen Zinsen und der Aufstieg von Private-Equity-Firmen als Hauptgründe für den Rückgang der Börsengänge genannt.
Lipper Alpha von Refinitiv beleuchtet die Herausforderungen für die Bank of England, die zwischen einer schwachen Wirtschaft und einer anhaltenden Inflation abwägen muss. Die geringe Wirtschaftsleistung Großbritanniens in Verbindung mit hoher Inflation berge die Gefahr einer Stagflation. Die neue britische Regierung plane daher höhere Investitionen durch zusätzliche Kreditaufnahme. Die geringe Produktivität in Großbritannien wird als ein Hauptproblem identifiziert, das außerhalb der Kontrolle der Bank of England liegt.
Die London Stock Exchange hat bereits in der Vergangenheit Krisen erlebt, wie die LBMA in einem Artikel über die Finanzkrise von 1914 berichtet. Damals musste die Londoner Börse für fünf Monate geschlossen werden. Die aktuelle Situation ist zwar nicht direkt vergleichbar, verdeutlicht aber die Anfälligkeit von Finanzmärkten für globale Ereignisse und politische Entscheidungen.